Erfolgreiche Arbeitgeber schaffen es, positive Erlebnisse zu vermitteln: im HR-Marketing ebenso wie im Bewerbungsprozess oder beim Onboarding. Das Prinzip dahinter heißt Talent Attraction und hilft, verborgene Recruiting-Potenziale zu nutzen. Die HR-Abteilungen der Versorger stehen vor großen Herausforderungen. Der aktuelle Fachkräftemangel wird durch die Verrentungswelle der kommenden Jahre weiter verschärft. In einem Umfeld mit hohem Bedarf an technischen und handwerklichen Mitarbeitern wiegt das besonders schwer. Hinzu kommt die mangelnde regionale Flexibilität: Während man in anderen Wirtschaftszweigen neue Standorte eröffnen kann, um seine Jobs zum Bewerber zu bringen, sind weite Teile des Versorgungsgeschäfts regional fest verwurzelt und gebunden.
Zusätzlich befindet sich der Sektor im anspruchsvollsten Transformationsprozess seiner Geschichte. Neue Energien, Elektromobilität und Digitalisierung auf allen Ebenen sind nur drei Themen, die die gesamte Branche grundlegend und nachhaltig verändern. Dass der BDEW unlängst vom „größten nationalen IT-Projekt aller Zeiten“ sprach, lässt die Größe der Herausforderungen erahnen.
Talent Attraction: den Wandel mitdenken
In dieser komplexen Gemengelage führt der klassische Talent Acquisition-Ansatz im Recruiting immer seltener zum Erfolg. Die Gründe: Einerseits gelingen Nachbesetzungen von Vakanzen aufgrund der geringen Verfügbarkeit passender Personen häufig einfach nicht. Andererseits ist der „passendste“ Kandidat heute nicht mehr derjenige, der aktuellen Anforderungsprofilen am besten entspricht, sondern der, der für die Vielfalt künftiger, mitunter unbekannter Aufgaben das richtige Kompetenzprofil mitbringt.
Um Personalbedarfe auch in Zukunft zu verstehen und trotz vieler Unbekannter so gut wie möglich zu antizipieren, hilft es, als Arbeitgeber kurz innezuhalten und das große Ganze in den Blick zu nehmen: Welche Kompetenzen sind mit Blick auf die kurz-, mittel- und langfristige Personalplanung notwendig, um
Change-Prozesse im Unternehmen erfolgreich zu gestalten? Und wie lässt sich die Anziehungskraft auf die notwendigen Talente – die „Talent Attraction“ – systematisch erhöhen, damit eine dauerhaft wirksame Strahlkraft entsteht?
„Talent Attraction macht den kontinuierlichen Wandel zum festen Bestandteil der Recruiting-Strategie.“
„Talent“ als fließender Begriff
„Talent“ meint im Kontext von Talent Attraction keinen starren Idealkandidaten, der in das fixe Korsett der üblichen Job Descriptions passen muss. Neben formale und fachliche Anforderungen treten individuelle Kompetenzprofile und Potenziale. Diese geben Aufschluss, inwiefern sich ein möglicher Mitarbeiter dauerhaft weiterentwickeln kann und möchte, um Wandel auch in Zukunft mitzugestalten.
Dieses Verständnis von „Talent“ wirkt nicht nur auf das Recruiting, sondern kann auch intern eine „Talent-Kultur“ forcieren. Eine Leitfrage von Talent Attraction ist deshalb auch: Was können wir tun, um Menschen im Unternehmen immer wieder zu begeistern, für neue Aufgaben zu gewinnen und langfristig zu wachsen? Welche Skills schlummern in unseren Teams, die in Zukunft geschäftsentscheidend werden – und wie können wir sie wecken? Das ist insofern bedeutsam, weil künftige Personalbedarfe nicht nur durch Recruiting gedeckt werden können: Die Qualifizierung interner Talente für Schlüsselpositionen ist
ebenso wichtig, um kritischen Engpässen entgegenzuwirken.
Damit wird eine zentrale Stärke des Talent-Attraction-Ansatzes deutlich: Er denkt Mitarbeitergewinnung und -bindung zusammen, erhebt den Wandel zum integralen Bestandteil der Recruiting-Strategie und nimmt auch die Zufriedenheit der bestehenden Mitarbeiter in den Blick. Letztere strahlen idealerweise selbst als Botschafter nach außen und erhöhen damit die Anziehungskraft ihrer gesamten Organisation.
Attraktivitätspotenziale der Versorgerbranche bleiben oft ungenutzt
Wenn wir den Blick von Talent Attraction im Allgemeinen auf die konkreten Attraktivitätspotenziale der Branche richten, fällt zweierlei auf. Erstens: Legt man die Karrierewünsche und -ziele relevanter Zielgruppen über die Benefits und Stärken von Versorgern und Dienstleistern, stellt man fest, dass es einen überraschend hohen Deckungsgrad gibt. Nachhaltigkeitsthemen, Work-Life-Balance, Gestaltungsräume – all das könnte großartige Möglichkeiten für eine talentzentrierte Arbeitgeberkommunikation eröffnen.
Doch die beschriebenen Möglichkeiten – und das ist die zweite Feststellung – werden von vielen Arbeitgebern der Branche bei weitem nicht ausreichend genutzt. Das liegt unter anderem daran, dass vorhandene Attraktivitätsfaktoren gar nicht erst als solche erkannt und nach außen kommuniziert werden. Hinzu kommt: Weil der Wandel, einer der größten Attraktivitätsfaktoren, mitunter nicht von allen Mitarbeitenden begrüßt wird, trauen sich Unternehmen nicht, genau dieses hochrelevante Thema ins kommunikative Zentrum zu rücken. Das Ergebnis: Chancen bleiben ungenutzt.
Auch technisch und methodisch tun sich viele Arbeitgeber schwer, Attraktivitätspotenziale bestmöglich einzusetzen: Ein globales Verständnis für all die Stellschrauben, an denen man mit dem Ziel einer höheren Arbeitgeberattraktivität drehen kann, ist vielerorts nicht vorhanden. Statt sich der Komplexität von Talent Attraction zu nähern, erprobt man kleinteilige Insellösungen: Out-of-HomeKampagnen, die online ins Leere führen; neue Anzeigen-Designs, die im Liquid Design der Job Portale nicht funktionieren; oder ansprechende Karriere-Websites, die hinter der schönen Oberfläche ins Nirvana nutzerfeindlicher Bewerbungsformulare führen.
Schnelle Updates für mehr Talent Attraction
Dabei besteht mit praktisch jedem Projekt der Mitarbeitergewinnung, -bindung und -weiterentwicklung die Möglichkeit, Arbeitgeberattraktivität dauerhaft zu erhöhen. Das macht Talent Attraction zu einem sehr pragmatischen Ansatz: Es geht nicht um am Reißbrett entwickelte Strategien (dazu bleibt in der Regel auch gar keine Zeit), sondern um gut überlegte Eingriffe mit starker Hebelwirkung. Vier solche Eingriffe haben sich in den letzten Jahren als besonders hilfreich erwiesen.
„Es geht nicht um theoretische Strategiepapiere, sondern um konzentrierte Eingriffe mit Hebelwirkung.“
Employer Branding: Schärfung der Core Story. Ein Kernanliegen von Talent Attraction besteht darin, Talente zu aktivieren: innerhalb wie außerhalb des Unternehmens. Eine präzise Definition der Arbeitgebermarke kann hier Wunder wirken. Auf Basis von Gesprächen mit dem Management und ausgewählten Zielgruppenvertretern lässt sich innerhalb weniger Wochen eine neue Arbeitgeber-Core-Story entwickeln. Diese adressiert die echten Bedürfnisse der relevanten Kandidaten und lässt sich
sukzessive auf die gesamte Arbeitgeberkommunikation übertragen – ganz ohne monatelange Beratungen und Analysen.
Recruiting: in verschiedenen Funnels denken. Aus dem Marketing wissen wir, dass verschiedene Kundentypen unterschiedlich umworben werden müssen. Gleiches gilt für die Gewinnung von Talenten: Aktive Kandidaten können über Jobboards erreicht werden, latent wechselwillige hingegen fast ausschließlich über Recruiting-ferne Kanäle. Erstere bewerben sich oft schon am ersten oder zweiten Touchpoint, letztere brauchen bis zu acht Kontaktpunkte bis zur Conversion. Die einfachen Beispiele zeigen: Im Sinne von Talent Attraction lohnt es sich, alle denkbaren Candidate Journeys zu analysieren, Sackgassen aufzudecken und immer wieder Orientierungsschilder zu installieren. Nur so lässt sich sicherstellen, dass vorhandene Attraktivitätsfaktoren nicht durch technische Unzulänglichkeiten konterkariert werden.
HR-Marketing: Mess- und Skalierbarkeit herstellen. Wer nicht nur begeisternd kommuniziert, sondern dabei auch noch schnell ist, hat einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Die Auswahl der Marketing Kanäle bedeutet deshalb in jedem Unternehmen eine zentrale strategische Weichenstellung. Mit den richtigen Traffic-Partnern lassen sich heute innerhalb kürzester Zeit neue Zielgruppen erschließen und ansprechen. Und das ist noch nicht alles: Durch Tracking und Retargeting kann man diesen Zielgruppen auch genau die Botschaften ausspielen, die für sie am wichtigsten sind. Die eingehende Prüfung der HR-Marketing und Recruiting-Budgets eröffnet dementsprechend große Optimierungspotenziale, um die Anziehungskraft als Arbeitgeber kurzfristig und dauerhaft zu erhöhen.
Employer Reputation: Außenwahrnehmung gezielt steuern. Beziehungen beruhen auf Vertrauen – das gilt auch für das Arbeitsverhältnis. Kandidaten, die über einen Jobwechsel nachdenken, informieren sich deshalb oft auf Bewertungsportalen über ihren möglichen neuen „Karriere-Partner“. Weil negative
Kommentare an dieser Stelle die zuvor aufgebaute Anziehungskraft empfindlich schwächen können, sollten Arbeitgeber hier aktiv werden: durch freundliche, klare Statements und die Einladung zum Dialog. Auf diese Weise nimmt die Attraktivität an einem sensiblen Moment der Candidate Journey nicht ab, sondern wird verstärkt – und zwar dauerhaft und für alle Kandidaten, die in der Consideration-Phase über eine Bewerbung nachdenken.
Heute die Weichen für morgen stellen
Die beschriebenen Quick Fixes zeigen, wie sich Arbeitgeberattraktivität anhand konkreter Projekte systematisch auf- und ausbauen lässt. Und das ist auch dringend nötig, denn die Versorger sind heute von Politik und Gesellschaft gefragt wie nie. Damit sie HR-seitig auch in Zukunft handlungsfähig bleiben, sollten sie sämtliche Potenziale aktivieren, um neue Talente zu gewinnen und bestehende Mitarbeiter im Sinne eines kontinuierlichen Wandels dauerhaft weiterzuentwickeln. Talent Attraction kann als tragendes Recruiting-Paradigma dabei helfen: durch konzentrierte Verbesserungen in der Personalgewinnung ebenso wie durch eine dauerhafte Erhöhung der Anziehungskraft auf die passenden Menschen und ihre Weiterentwicklung im Unternehmen.

Artikel original erschienen in „energiekarriere“ Ausgabe Juni 2022.